ALTER SCHWEDE!
PHOTOSHOP-SKANDAL 1857!

Ein Schelm und Businessman: Der Schwede Oscar Gustave Rejlander hat im viktorianischen Zeitalter die Diskussion um Fotografie und Bildbearbeitung maximal aufgemischt. Schmutzfink oder Genie? Was ist sein Vermächtnis?

Die Geschichte der Bildbearbeitung, Teil 2

Dirty, dirty Oscar!
Hat ein schwedischer Einwanderer in England das reine Licht der Kunst mit dem Schatten profaner Nacktfotos beschmutzt? Oder hat er die damals noch neue Fotografie in den Kreis der Künste geführt? Und was hat Queen Victoria damit zu tun?
In dieser Folge beschäftigen wir uns bei „Der Retuscheur“ mit einem interessanten Charakter. Oscar Gustave Rejlander war ein Maler, der zur Fotografie wechselte und als erster Mensch damit Kompositionen erstellte, mit Maskierungen und Überlagerungen arbeitete und mit einer Reihe von manuellen Techniken, die stark an digitale Bildbearbeitung erinnern. Oder deren Vorläufer sind. Photoshop im Jahr 1857? Na klar. Der Mann war damals viel umstrittener als heute ein Fotograf, der mit KI arbeitet. 
flash-icon
kamera_02

Rejlanders Trickkiste

Heute ist ein Bild-Compositing nichts Besonderes. 1857 war es eine Sensation. Bei der Herstellung der Positive gab es nur Kontaktabzüge: Glasnegative wurden direkt aufs Papier gelegt. Deshalb waren Skalierungen und Anpassungen nur bei der Aufnahme durch Kameraabstand möglich. Rejnlander hatte seine Compositing-Tricks selbst erfunden und gleich bei der ersten großen Arbeit für ein skandalöses Bild verwendet. Auf seinen Prinzipien (z.B. Maskierung) beruht heute noch die Bildbearbeitung in ihren Grundzügen.

„Two Ways to Live“ – das Skandalbild

Fotografien nackter Körper wurden 1857 im viktorianischen England unter der Ladentheke verkauft. Und nicht selten heimlich von jenen erworben, die nach außen hin Moral predigten.
Es brachte Teile der Gesellschaft massiv auf die Palme, als ein gewisser Oscar Gustave Rejlander ein solches Bild bei einer öffentlichen Ausstellung einreichte. Normalerweise wäre sein Werk sofort verbrannt und er nach Australien verschifft worden, wenn es nicht zwei Besonderheiten gehabt hätte, über die man im Vereinten Königreich heiß debattierte.
Zum Einen waren die nackten Frauen Teil eines allegorischen Bilds.
Rejnlander spielte im Rahmen dieser moralischen Eckwerte mit der Legalität. Zum Anderen war es eine beeindruckende Fotomontage, eine Technik, die Rejnlander selbst erfunden hatte und damals eine Innovation war (Erläuterung siehe Slideshow unten).
Rejnlanders Wahl des Sujets war kein Zufall, er hatte in Rom Kunst studiert. Seine Begeisterung für das neue Medium ging so weit, dass er damit eine eigene Kunstform etablieren wollte. Die um 1850 noch frische Fotografie galt vielen kulturbewussten Menschen als schnöde und banal, eine mechanische, seelenlose Abbildung. Ganz ähnlich werden heute KI-Bilder verurteilt. Rejnlanders „Two Ways to Live“ war ein echter Paukenschlag, an dem er sechs Wochen lang gearbeitet hatte.
Das große Compositing (ca. 80 x 40 Zentimeter) stellt die Wahl zwischen Laster und Tugend dar (ganzes Bild siehe oben). Ein weiser alter Mann in der Bildmitte hat links und rechts zwei junge Männer neben sich, die auf der Bühne des Lebens zwischen dem richtigen und falschen Weg entscheiden müssen. Die eine Bildhälfte zeigt ehrliche Arbeit, Fürsorge, Züchtigkeit und Bildung. Die andere stellt Ausschweifungen dar wie Glücksspiel, Trunksucht und fleischliche Gelüste.
Besonders letztere dominieren das Bild in Form entblößter Frauen. Solche Darstellungen waren bis dato der Malerei vorbehalten.  Das Publikum war gespalten. In der ersten Ausstellung „Art Treasure Exhibition“ 1857 wurde die lasterhafte Hälfte des Bildes teilweise mit einem Vorhang verdeckt. Mit unserer heutigen Medienerfahrung ist jedem klar: Das Skandalbild war hochbegehrt. Massenproduktionen in diesem Format gab es noch nicht, denn jeder Abzug musste manuell komponiert und belichtet werden. Die Kleinauflage von ca. 9 Stück (alles Unikate) machte das Werk noch wertvoller. 
Rejnlanders Kritiker sorgten dafür, dass er von fotografischen Gesellschaften ausgeschlossen wurde, doch dann geschah das Unglaubliche: Queen Victoria kaufte ein Exemplar für ihren Gatten Albert. Offensichtlich sah sie keinen moralischen Anstoß und erkannte den künstlerischen Wert. Oder sie hatte noch andere Gründe (siehe Ende dieses Artikels).
Oscar Gustave Rejnlander etablierte sich in der Londoner High Society, widmete sich aber weniger der Aktdarstellung als der Porträtierung bekannter Persönlichkeiten wie Charles Darwin und Lewis Carroll (Alice im Wunderland). Auch machte er zunehmend gesellschaftskritische Bilder, fotografierte Szenen der Armut. 
Was war neu an Rejlanders Technik? Kurz gesagt: So ziemlich alles. Er ist nicht der Erfinder der Fotografie, wohl aber der erste, der sie für Compositings nutze, und zwar gleich mit über 30 Einzelaufnahmen. Damals gab es keine Möglichkeit, Bilder zu skalieren. Die Größe eines Glasnegativs (ca. 20x15cm) bestimmte die Maße einer Figur in der Gesamtkomposition. Um Figuren im Hintergrund kleiner darzustellen, benutzte Rejlander einen Spiegel, weil sein Studio für genügend Abstand zu klein war. Die Glasnegative wurden auf ein Papierformat von ca. 80×40 cm aufgelegt und im direkten Kontakt belichtet. Für jedes Teil-Element schnitt Rejlaner passgenaue Masken aus schwarzem Papier und belichtete schrittweise entweder mit Sonnenlicht oder Paraffin-Lampe. Die Slideshow zeigt seine Vorgehensweise.
Fluch und Schande über Sie, Mr. Rejlander!
Wir von der „Londoner Gesellschaft für Moral und Anstand“ sind entsetzt über das schamlose Bild, das Sie in der Manchester Kunstschatz-Ausstellung eingereicht haben! Und Sie haben die Dreistigkeit, es als Allegorie auf die Moral zu bezeichnen.
Nicht mit uns! Nur in der Malerei sei es gestattet, entblößte Frauen darzustellen, als Göttinnen, als Sagengestalten. Sie aber haben Prostituierte von der Straße geholt und abgelichtet. Und auch Zirkusleute und andere fragwürdige Gestalten. Überhaupt ist das Ablichten niemals als Kunst zu bezeichnen! Wie banal, mit einer Glaslinse eine Person einzufangen! Das ist die voyeuristische Zurschaustellung profaner Nacktheit, ohne dass ein inspirierter Geist Hand an einen Pinsel gelegt hat. Das wird nie an die Kraft der Malerei heranreichen. Auch wenn Ihre Licht-Komposition noch so raffiniert erscheint – Sie sind kein Künstler! Sie sind nicht einmal Engländer, sondern ein dahergelaufener Einwanderer aus Schweden. Schande über Sie! Man sollte Sie umgehend von der Insel verjagen und die schwedische Botschaft in London für immer schließen!
In tiefster Verachtung
Ebenezer Rightfoot-Goodridge
Hoch geschätzter Mr. Oscar Gustve Rejlander!
Die anfänglich negative Beurteilung Ihres so einzigartigen Werks „Two Ways to Live“ beruht auf Missverständnissen. Unsere Majestät, Queen Victoria, hat sich ja eindeutig durch den Kauf einer Kopie zu den künstlerischen Qualitäten Ihrer Komposition bekannt. Überhaupt verdankt die Fotografie Ihnen, lieber Oscar Gustave, die Anerkennung als Kunstform. Deshalb bereuen wir Ihren Ausschluss aus der „Photographic Society of Scotland“ zutiefst und beglückwünschen Sie, dass die „Royal Photographic Society“ in London Sie als Ehrenmitglied aufgenommen hat. Ihre Leistung als Photo-Komponist ist unumstritten und wir sind gespannt auf weitere Techniken der künstlerischen Manipulation und Retusche, mit denen Sie uns alle überraschen werden. Das Vereinte Königreich ist stolz, Sie als Bürger in unserer Mitte zu wissen! 

Hochachtungsvoll und in tiefer Verneigung
Connor Donald McLeod

Die Geschichte wiederholt sich: Parallelen zu heute

„Sex sells“ galt damals wie heute, und schon vor der Fotografie wurden Akte gepinselt und mit Heiligen gemixt, um Voyeure in Tempel und Kirchen zu locken, stets unter dem Deckmantel der Moral. Aber war Oscar Gustave Rejlander ein Schmierfink des Lichts? Nun: Er war ein echter Schelm, der die skandalöse Dynamik eines fotografierten Nacktbilds genau gekannt und eine allegorische Komposition als Vehikel genutzt hat, um damit durchzukommen und berühmt zu werden. Rejlander war ein Influencer und Erfinder, dem bald viele nacheiferten. Fotografische Manipulationstechniken und Retuschen nahmen seit ihm richtig Fahrt auf. Im viktorianischen Zeitalter gab es bald kein unretuschiertes Bild mehr. Retuscheur wurde zu einem Berufsbild, dem vor allem Frauen angehörten (wenn man nach historischen Abbildungen geht). Rejlander war also technischer Wegbereiter der Bildretusche und hat zugleich die Fotografie als Kunstform etabliert. Alter Schwede, Oscar Gustave! Was für eine Leistung!
Und im Jahr 2024? Ist Sam Altman von Open AI der neue Rejlander? Die Reaktionen der etablierten Kunstwelt und Fotografen auf das Erscheinen der KI ist zum Teil noch heftiger, denn hier geht es an den Kern der menschlichen Kreativität. Auch heute werden Stimmen nach Verbannung und Ächtung laut. Mit ein wenig geistigem Abstand erkennt man dieselben Muster und zieht daraus denselben Schluss: Man gewöhnt sich an alles. Wir bei „Der Retuscheur“ sind auch für den Umgang mit der KI gerüstet. Vertrauen Sie dem Lauf der Geschichte der Bildbearbeitung. Und uns.
Hatten Sie Spaß beim Lesen dieses Artikels? Haben Sie Lust auf mehr? Wir freuen uns über Ihr Feedback! Wollen Sie sofort über neue Blog-Artikel informiert werden? Das geht >> hier!

Herzliche Grüße
Jens Briskorn und das Team bei „Der Retuscheur“ www.derretuscheur.de
flash-icon
Wollen Sie in Zukunft direkt über neue Blog-Artikel informiert werden?
Dann abonnieren Sie unseren Newsletter!
NEWSLETTER-ABO

WEITERE BLOGARTIKEL

Photoshop-Skandal 1857!
Von der Schande zur Kunst. Wie Bildbearbeitung die Fotografie adelte.
Steinzeit-Retusche
Kannten Höhlenmenschen schon Bildbearbeitung? Eine Spurensuche.