Steinzeit-Retusche

Handabdrücke legen nahe: Frauen und Männer haben sich in der Steinzeit künstlerisch in Höhlen verewigt (z.B. in Chauvet, Frankreich). Dieses KI-Bild zeigt die Höhlenmalereien exemplarisch im kleineren Maßstab.
(bildillusion.de und Der Retuscheur)

Die Geschichte der Bildbearbeitung, Teil 1

Höhlenmalerei: Schnappschuss von vor 31.500 Jahren. Okay, Sie wissen natürlich, dass die Kamera damals noch nicht erfunden war, sondern… wann eigentlich? Und wer ist der Erfinder? Wüssten Sie das, ohne zu googeln? Was war auf dem allerersten Foto zu sehen?
Und wie und warum wurde zum ersten Mal ein Bild manipuliert?
In welchem Jahr wurde Photoshop programmiert?
Und wer hat das erste KI-Bild generiert und wann?
Was davon wissen Sie? Oder besser: was wissen wir? Denn hier bei „Der Retuscheur“ haben wir uns das auch gefragt, und es gibt uns ein tieferes Verständnis unseres Berufs, wenn wir uns nicht nur mit den aktuellsten Techniken beschäftigen (und das tun wir), sondern auch die Ursprünge kennen. Wir recherchieren und starten eine Serie kurzer Artikel über die Historie der Bildbearbeitung, natürlich immer gefärbt durch unseren Lieblingsfilter: Unser eigenes Gehirn. Auch jede Retusche, die wir vornehmen, wird zuerst daran getestet, ob wir selbst glauben können, was wir da gepixelt haben. Erst wenn es top ist, geht es raus.
Ja, wir gehören zur Zunft der Manipulatoren, und wer das verachtet, darf nie wieder einen Film sehen oder Lippenstift nachziehen oder mit dem Smartphone Bilder machen, denn all das sind Idealisierungen der Wirklichkeit. Steckt der Wunsch dahinter, den Verfall zu kaschieren? Oder die Schönheit der Dinge und Wesen hervorzuheben und zu feiern? Geht es nur ums Verkaufen – und wenn das so ist, warum wollen wir als Konsumenten dennoch nur schöne Bilder sehen, obwohl wir wissen, dass sie manipuliert wurden?
Offenbar gehört das Verändernwollen, in realitas und virtuell, zu unserer menschlichen Natur. Demnach ist Bildbearbeitung eine Kulturtechnik. Und wir bei „Der Retuscheur“ sind hochkultiviert.
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Photoshop-Tools der Steinzeit

(1) Muschel mit Pigmentmix (Wasser, Speichel, vielleicht Tierfett)
(2) Rötel, rote Erde, auch zermahlenes Eisenoxid
(3) Mahlstein (mit „h“)
(4) Pinsel oder Stock mit Fell: Ob wirklich Tierhaarpinsel benutzt wurden, ist nicht eindeutig nachgewiesen
(5) Federn: Sind vielleicht verwendet worden, Nachweis fehlt, sieht hier aber dekorativ aus.
(6) Kalk zum Vorweißen (Kalkwasser) oder zum Aufhellen (quasi Tonwertkorrektur wie in Photoshop)
(7) Hohler Stein als Mörser für Pigmente, Farbauswahl in Photoshop
(8) Holzkohle – tiefstes Schwarz, auf dem Monitor: lichtlose Pixel
(9) Wischfinger, beliebt bei Paläo-Photoshoppern
(10) Blasrohr aus Knochen oder Schilf (Airbrush)

Ja, und das hier ist ein KI-Bild-Compositing

Haben Höhlenmenschen schon retuschiert?

Zunächst: Die wenigsten Menschen in der Steinzeit lebten in Höhlen, und wenn, dann nur vorübergehend. Sie waren Nomaden, bauten temporäre Unterkünfte aus allem, was sie finden oder transportieren konnten. Allerdings sind Artefakte am ehesten im geschützten Inneren von Gesteinsmassiven erhalten, und man hat dort Felsbrocken mit Vertiefungen gefunden, in denen Farbpigmente zerrieben und gemischt worden sind, um damit an der Wand zu malen. Und zu retuschieren.
Am kreativsten war man in Frankreich und Spanien (dort gibt es mehr Höhlen als in Deutschland).
Und gab es seinerzeit schon „Bildbearbeitung“?
Aber ja – natürlich wurde bereits bei Höhlenmalerei korrigiert, gewischt, gekratzt und mit Kalk übertüncht, um wieder neu zu zeichnen, denn glatter Untergrund war rar. Zum Teil sind die Höhlenwände gemeißelt oder geschliffen worden. Manchmal wurden natürliche Felsformen für die Anatomie der Tierdarstellungen genutzt, sozusagen der erste Gebrauch von 3D in der Bildgestaltung.
Und bestehende Zeichnungen wurden ergänzt, nachträglich ausgemalt oder direkt daneben oder darauf kopiert. Das kann man noch heute sehen z.B. in den Höhlen von Chauvet oder Lascaux in Frankreich. Copy-and-paste war demnach üblich, entweder zu Übungs- und Verbesserungszwecken oder weil die Wiederholung einfach Spaß machte. Oder ein Ritual war, das besondere Jagderfolge dokumentierte oder sogar beschwor. Die Gehirne der Höhlenmalerinnen von Chauvet waren schon genauso komplex wie unsere. Also kam hier der Drang sich auszudrücken sofort mit einer menschlichen Eigenart zusammen: Die Dinge mit Bedeutung aufzuladen. Der Homo sapiens stand ergriffen von seinem Werk in der Höhle und manipulierte sich damit emotional selbst oder gleich den ganzen Clan. Aus einer Zeichnung wurde eine Bitte an die Götter oder sogar die Gottheit selbst. Und für solche Zwecke musste alles gut aussehen. Ein Narr wer glaubt, da wurde nicht schon retuschiert.
Porträt-Retusche war noch nicht gefragt, denn die Darstellung von Gesichtern ist erst sehr viel später populär geworden. Nicht mal der simpelste Smiley ist aus dieser Zeit bekannt und auch bei Skulpturen wurde der Kopf meist nur rudimentär dargestellt (z. B.Venus von Willendorf, 29.500 Jahre alte Frauenplastik).
Die Pigmente bei der Höhlenretusche, sorry… -malerei, waren Holzkohle (sehr naheliegend) dann ockerfarbenes, weiches Gestein oder Rötel, gelbes oder rotes Eisenoxid. Kalk wurde als Bindemittel benutzt, um zerriebenes Material mit Wasser, Speichel oder Harz zu mischen. Farbstoffe aus Pflanzen und Insekten (Purpurkäfer für Königsmäntel) kamen erst viel später.
Der in Photoshop beliebte Wischfinger war in der Steinzeit das bevorzugte Werkzeug. Vielleicht sind Pinsel aus Tierhaaren bald erfunden worden, nachgewiesen ist ihr Gebrauch in älteren Höhlenwerken nicht eindeutig. Sicher ist: Die Airbrushtechnik war bekannt. Durch einen hohlen Knochen oder einen Halm (oder auch nur mit dem Mund) wurde gefärbtes Wasser auf die Höhlenwand geblasen. Nicht auszuschließen, dass damit auch retuschiert wurde. Vor allem entstanden mit dieser Technik negative Handabdrücke der Künstlerinnen und Künstler. Hand auf den Fels, sprühen, wegnehmen. Ein Existenzbeweis für die Ewigkeit. Interessant: An sehr vielen dieser Hände fehlten Fingerglieder. Erfrierungen? Rituelle Opfer? Die Wahrheit ist, das waren keine Verstümmelungen, sondern Handgesten, sozusagen Steinzeit-Ghetto-Style. Die Bedeutung dieser Gesten ist unbekannt. Vielleicht nur „Hey, wir sind cool“. Man darf nicht vergessen, das waren meist junge Leute (nach unseren Maßstäben). Nur mit der Airbrushtechnik lassen sich diese Gesten wirklich darstellen, denn einfache Handabdrücke (Stempel) funktionieren nicht mit eingeklappten Fingergliedern.
Bildbearbeitung in der Steinzeit? Eine gewagte These. Mit einigen Beobachtungen in der Chauvet-Höhle in Frankreich kann man auf Paläo-Photoshopper schließen, die damals am Werk waren. Es gibt dort zahlreiche Stellen, an denen Korrekturen und Übermalungen zu sehen sind. Und Kopien (quasi copy-paste) von steinzeitlichen Anfängern, die ihre Meisterinnen nachahmen wollten.

Die Bilder in der Galerie sind Originale (Quelle: Wikimedia, Creative Commons License) ggf. sind am Rand Bildteile ergänzt worden, um die Texte besser zu platzieren. Die Hauptbildteile sind unverändert.

Mini-Story

Und so könnte es gewesen sein

>> Der Schein der Fackel erhellt die Felswand, als die Frau den Arm ausstreckt und mit dem rötlichen Stein den allerersten Strich zieht. Zuvor hatte sie nur mit Stöcken Linien in den Sand gekratzt, unten am Fluss, viele Male. Sie hat also Übung. Doch hier in Dunkelheit und Kälte der Höhle ist es anders. Die Finger sind klamm und schnell merkt sie, dass sie genau sein muss. Ihre Schwünge sitzen. Ein Rücken, eine Schnauze, der elegante Bogen eines langen Horns. Ein großes Tier, ein Nashorn, geboren aus harmonischer Bewegung von Hand und kreidigem Werkzeug.
Erstaunt von der Wirkung ihres eigenen Tuns tritt sie zurück. Ein seltsames Gefühl durchflutet sie, drängt sie zurück zu dieser Wand und lässt die Hand wie in Trance erneut kreisen. Ein weiteres Tier taucht auf, ein Büffel. Und noch eines, es ist der Rausch des Ausprobierens einer völlig neuen Sache.
Sie kennt die Körper der Tiere genau, das Leben des Clans hängt an diesen Wesen.
Ein kräftiges Wildpferd manifestiert sich, der Rötel umreißt Masse und Form.
Sie zeichnet, wie nie zuvor jemand gezeichnet hat.
Sie hört erst auf, als das Rötelstück zerbricht und die kalten Finger den Rest nicht mehr gut halten können.
Als sie wieder ans Tageslicht tritt, ist sie noch von der Erfahrung ergriffen, spricht mit niemandem im Clan, der weiter weg in weniger zugigen Erdbauten lebt.
Tage später nimmt sie ihre älteste Tochter mit in die Höhle. Das Mädchen ist fast erwachsen und auch sie zieht den roten Stein geschickt über den beigen Fels. Noch weniger geübt, imitiert sie die Zeichnung der Mutter, legt ihre eigenen direkt daneben oder darauf, um die Linien zu begreifen. Die Mutter korrigiert sie, führt ihre Hand. Sie wischen mit dem Pelz ihrer Kleidung lachend über missratende Striche – und merken, wie dadurch Schattierungen entstehen. Das Versehen wird schnell zu ihrer Technik. Die erste Retusche der Weltgeschichte ist ein voller Erfolg.
Als der Clanchief später die Zeichnungen entdeckt, bringt er kaum einen Laut heraus. Der Schamane an seiner Seite schaut neidisch. Seine in den Fels gekratzten primitiven Symbole beeindrucken dagegen kaum.<<

Die Höhle als Zeitmaschine

Wir haben Glück, diese Anfänge menschlicher Ausdruckskraft noch heute sehen zu können. Die Feuchtigkeit auf den Felswänden bildete dünne Kalkablagerungen, die die Höhlenbilder für Jahrtausende konservierten. Erhalten geblieben sind also die zuletzt angefertigten Werke – und ihre Retuschen. Wie viele Generationen zuvor die Fläche nutzten und wie oft Abbildungen mit Steinen, Sand und Fell heruntergeschrubbt wurden, ist unbekannt.
Die für die Malereien gewählten Stellen in den Höhlen hatten oft eine besondere Akustik (da klingen Gesänge besser). Die Zeichnungen sind anatomisch erstaunlich genau – aber wir wissen nicht, zu welchen Übertreibungen die Schaffenden neigten. Fake News durch manipulierte Bilder in der Steinzeit? Möglich. „Mach das Geweih größer, Ulug, was sollen die Nachfahren denken!“ Die Künstler hatten ganz sicher ihre Methoden zur Verbesserung. Und das 31500 Jahre vor Photoshop.
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Herzliche Grüße
Jens Briskorn und das Team bei „Der Retuscheur“ www.derretuscheur.de
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